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Reduzierung von Entwicklungszeiten in der Elektroindustrie

[20.04.2002]

Foto: alphaspirit / fotolia.com
Der Erfolg einer Innovation hängt heute in entscheidendem Maße von dem realisierbaren Markteintrittszeitpunkt ab. Eine dauerhafte Differenzierung vom Wettbewerb kann vielfach nur noch dann erreicht werden, wenn es gelingt, das Innovationstempo zu bestimmen und neue Produktgenerationen immer wieder als Erster auf den Markt zu bringen. Wie aber gelingt es erfolgreichen Unternehmen, kurze Entwicklungszeiten zu realisieren und welche Methoden können dabei zum Einsatz kommen? Im Rahmen des BMBF-Forschungsprojektes „PROGRESS – Ganzheitliche beschleunigte Entwicklungsprozesse in der Elektronikindustrie" wird dieser Fragestellung nachgegangen. Gemeinsam mit den Industriepartnern Alcatel, Conti Temic, Knorr-Bremse, Rohde & Schwarz, Webasto, Zuken sowie dem Fraunhofer Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration wurden neue Ansätze und Methoden zur Reduzierung von Entwicklungszeiten erarbeitet.

Die Entwicklungsbereiche der beteiligten Unternehmen haben zwischen 18 und 650 Mitarbeitern, wobei sowohl stark technologie- als auch stark kundenorientierte Unternehmen vertreten sind. Insgesamt decken die beteiligten Unternehmen ein breites Spektrum der Elektronikindustrie ab. Zur Ermittlung der Ist-Situation der Entwicklungsprozesse wurden in den Unternehmen zweitägige standardisierte Audits durchgeführt, die mit einem Benchmarking verbunden wurden.

Bei den Unternehmen wurden zwischen 20 und 80 Entwicklungsprojekte parallel bearbeitet, wobei versucht wurde, die Anzahl von Großprojekten pro Mitarbeiter auf zwei zu beschränken. Die Entwicklungsbereiche waren teilweise zwar in Vorentwicklung- und Serienentwicklung getrennt, es wurden jedoch häufig die Vorentwicklungsressourcen für zeitkritische Serienentwicklungsprojekte genutzt, was zu entsprechenden Verzögerungen der Vorentwicklungsprojekte führte. Ein weiteres Defizit bestand bei allen Unternehmen in dem jeweils unterschiedlichen Kenntnisstand der Mitarbeiter bei themenübergreifenden Projekten.

Ein Hauptproblem aller Unternehmen im Bereich der Effizienz war die Termintreue der Entwicklungsprojekte. Bei den kundengetriebenen Entwicklungsprojekten wurden die Soll-Termine zwar in der Regel erreicht, wobei jedoch meist ein hoher Aufwand erforderlich war, um zwischenzeitliche Terminabweichungen zu kompensieren. Bei generischen Projekten kam es bei den Unternehmen bei 50 bis 100% der Projekte zu Terminverzug, der häufig auch mit deutlichen Kostenüberschreitungen verbunden war. Diese geringe Termintreue resultierte vor allem aus unrealistischen Planungsvorgaben und Prioritätenänderungen aufgrund der Marktdynamik. Ein Unternehmen führte keine systematischen Soll-/Ist-Vergleiche der Projekttermine durch. Als Reaktion auf drohende Terminüberschreitungen wurden Ressourcen umgeschichtet, Fremdvergabeanteile erhöht, Spezifikationen geändert, Mitarbeiter zeitlich befristet eingestellt und auch Termine verschoben.

Als Reaktion auf die identifizierten Defizite, wurde ein Modell zur Prognose von Entwicklungszeiten entwickelt. Ziel des Modells ist es, eine bessere Planbarkeit von Entwicklungsprojekten durch eine genaue Prognose ihrer Zeitdauer zu ermöglichen. Dies stellt auch die Basis einer zielgerichteten Ressourcenallokation dar. Das Modell soll dazu dienen, die Effekte von Maßnahmen zur Zeitreduzierung auf einzelne Entwicklungsprojekte sowie auf die durchschnittlichen Entwicklungszeiten des jeweiligen Unternehmens zu ermitteln. Dies ermöglicht eine a priori Abschätzung der Wirkungen der Maßnahmen und somit eine effektive und effiziente Maßnahmenauswahl und ?umsetzung in Abhängigkeit der zur Erreichung des gewünschten Markteinführungszeitpunktes erforderlichen Zeitreduzierungen.

Der erste Schritt zur Einführung des Prognosemodells besteht in der Segmentierung der Prozesse in verschiedene Entwicklungsprozesstypen. Dies ist erforderlich, da in den unterschiedlichen Typen von Entwicklungsaufgaben, wie beispielsweise Vorentwicklung oder Kundenanpassung, unterschiedliche Randbedingungen und Anforderungen vorliegen und somit auch unterschiedliche Einflussgrößen auf die Entwicklungszeit wirken.

In einem zweiten Schritt wurden gemeinsam mit den Partnerunternehmen die wesentlichen Einflussgrößen auf die Entwicklungszeit, sogenannte Zeittreiber, identifiziert. Hierbei konnten die acht Zeittreiber Planung, Organisation, die Faktoren Mensch, Technologie, Kunde/Markt, sowie Prozessgestaltung, Lieferant und Methodeneinsatz ermittelt werden, denen insgesamt 50 Einflussgrößen zugrunde liegen. In den Unternehmen wurde dann bewertet, wie stark sich eine Einflussgröße zeitverlängernd auswirkt, wenn sie die ungünstigste Ausprägung annimmt. Für die Prognose der Entwicklungszeit eines konkreten Projektes ist es nötig, die Ausprägung der einzelnen Einflussgrößen für dieses Projekt zu bestimmen. Durch eine vergleichende Betrachtung mit abgeschlossenen Referenzprojekten, deren Projektlaufzeiten ja bekannt sind, kann auf die zu erwartendende Laufzeit des betrachteten Projektes geschlossen werden.

Der aus der Schätzung erhaltene Endtermin des Projektes ist mit dem geplanten Markteintrittszeitpunkt zu vergleichen. Zeigt sich, dass das Projekt unter den herrschenden Bedingungen nicht zum vorgegebenen Termin fertiggestellt werden kann, dient die ausgefüllte Bewertungstabelle als Grundlage für die Identifikation von Ansatzpunkten zur Zeitverkürzung. Durch Definition konkreter Maßnahmen und der Quantifizierung der dadurch erreichbaren Zeiteinsparung, kann ermittelt werden, ob und wie der angestrebte Termin erreicht werden kann.

In der empirischen Überprüfung des Modells in den beteiligten Unternehmen konnte gezeigt werden, dass mit einem relativ geringen Aufwand für die Projektbewertung Genauigkeiten bezüglich der Prognose der Projektlaufzeit von deutlich unter 15 % erzielt werden konnten. Aus den bisherigen Erfahrungen mit dem Vorhersagemodell können folgende Handlungsempfehlungen abgeleitet werden:

1. Systematisches Vorgehen

Um unter den herrschenden Rahmenbedingungen eine Reduzierung der Entwicklungszeit zu erreichen, ist eine systematische, strukturierte Vorgehensweise unabdingbar. Zur Strukturierung der Projektlandschaft wurde ein Portfolio mit den Einflussgrößen Technologischer Neuigkeitsgrad und Kundeneinfluss vorgeschlagen. Daraus ergeben sich die vier Kategorien generische Produktentwicklung, generische Technologieentwicklung, kundengetriebene Produktentwicklung und kundengetriebene Technologieentwicklung. Darauf aufbauend kann eine differenzierte Bestimmung der Wirkzusammenhänge sowie eine Klärung der Anforderungen bezüglich der Reduzierung der Entwicklungszeit erfolgen. Durch die Bestimmung der relevanten Zeittreiber und die Quantifizierung der zeitverlängernden Auswirkungen der einzelnen Einflussgrössen finden die unternehmensspezifischen Rahmenbedingungen Eingang in das Vorhersagemodell. In diesem Schritt werden für jeden Prozesstyp Referenzprojekte ausgewählt, die die Grundlage für die Vorhersage von Laufzeiten neuer Projekte darstellen. Daraus können typspezifische Maßnahmen für eine Reduzierung der Entwicklungszeit sowie eine Verbesserung der Rahmenbedingungen abgeleitet werden. Auf dieser Basis kann nun die Prognose von Laufzeiten für neustartende Entwicklungsprojekte erfolgen. Mögliche Terminüberschreitungen können so bereits frühzeitig erkannt und mit geeigneten Maßnahmen verhindert werden. Dabei ist es möglich, die Wirkung einzelner Maßnahmen quantitativ abzuschätzen.

2. Konzentration auf Haupteinflussgrößen

Die Erfahrung der praktischen Erprobung des Modells zeigt, dass eine Konzentration auf Haupteinflussgrößen die Bewertung der einzelnen Projekte vereinfacht und beschleunigt. Ebenso konnten bei der ersten Anwendung des Vorhersagemodells bei den Unternehmen höhere Genauigkeiten erzielt werden, die eine eher geringe Zahl an Einflussgrößen als relevant eingestuft haben.

3. Priorisierung der Maßnahmen

Um eine möglichst schnelle Reduzierung der Entwicklungszeit erreichen zu können, sind die Maßnahmen zu ergreifen, die eine deutliche Verkürzung der Projektlaufzeit erwarten lassen. Mit Hilfe des Vorhersagemodells sind die zeitverlängernden Auswirkungen einzelner Einflussgrößen bestimmbar. Dadurch können die Wirkungen verschiedener Maßnahmen quantifiziert werden. Die Kenntnis über das Zeitverkürzungspotential einzelner Maßnahmen ist die Basis für eine sinnvolle und zielgerichtete Priorisierung dieser Maßnahmen.

4. Monitoring der Entwicklung von Einflussgrößen

Die Einflussfaktoren auf die Laufzeiten von Entwicklungsprojekten unterliegen über den Zeitverlauf einer kontinuierlichen Veränderung. Diejenigen Faktoren, die heute einen wesentlichen Effekt auf die Entwicklungszeit ausüben, können in der Zukunft von anderen Haupteinflussgrößen in der Bedeutung abgelöst werden. Insbesondere die hohe Dynamik des Wissenszuwachses in vielen Bereichen sowie sich schnell ändernde Anforderungen der Kunden bewirken, dass Wirkstrukturen in immer kürzeren Abständen deutlichen Veränderungen unterliegen. Deshalb ist ein systematisches Monitoring von Einflussgrößen auf die Entwicklungsdauer erforderlich. So kann beispielsweise im Rahmen von regelmäßigen Entwicklungsstrategie-Meetings eine Neubewertung der Zeittreiber erfolgen. Dabei sollen sowohl neue Zeittreiber identifiziert als auch die Bedeutung der einzelnen Einflussgrößen überarbeitet werden.

5. Frühzeitiges Handeln

Häufig werden Zeitverzögerungen und ihre Ursachen erst zu spät erkannt. Ein schnelles und wirksames Entgegenwirken, um Terminüberschreitungen zu verhindern, ist dann in der Regel schwierig. Der Einsatz des Vorhersagemodells erlaubt es, frühzeitig drohende Zeitverzögerungen und Terminüberschreitungen zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Die vorgestellte Systematik unterstützt das vorausschauende Erkennen von Zeitverzögerungen und das gezielte Ableiten von Maßnahmen. So wird eine Projektsteuerung möglich, die mehr durch Agieren statt durch Reagieren gekennzeichnet ist.

6. Systematisches Lernen aus abgeschlossenen Projekten

Der Einsatz des Vorhersagemodells fördert die Erkenntnis über die Wirkstrukturen, die die Entwicklungsdauer beeinflussen, sowie deren Veränderung im Laufe der Zeit. Um Erfahrungswissen im Unternehmen auf einer breiten Basis nutzbar zu machen, ist eine systematische Analyse abgeschlossener Entwicklungsprojekte durchzuführen. Dies trägt zu einem tieferen Verständnis über die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen zur Projektbeschleunigung unter verschiedenen Projektsituationen bei und schafft die Grundlage für eine nachhaltige Implementierung kurzer Durchlaufzeiten in der Entwicklung.

Literaturhinweise:

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