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Logistik als Wertschöpfungsfaktor

[10.02.2000]

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Obwohl sich Theorie und Unternehmenspraxis in den vergangenen Jahren intensiv mit logistischen Fragestellungen beschäftigt haben, hat die Logistik keineswegs an Aktualität verloren. Im Gegenteil: Technische Innovationen in der Kommunikations- und Informationsverarbeitung, permanenter organisatorischer Wandel, die Internationalisierung von Geschäftssystemen und die Konzentration auf Kernkompetenzen bis hin zu virtuellen Unternehmen führen zu einer neuen Wettbewerbslandschaft und deuten darauf hin, dass der Logistik auch zukünftig eine strategische Schlüsselposition als unternehmensspezifischer Wertschöpfungsfaktor zukommt.

Logistik als wettbewerbsrelevanter Differenzierungsfaktor

In den meisten Industriezweigen sind tiefgreifende Veränderungen im Markt- und Kundenverhalten zu beobachten. Der Wandel vom friedlichen Wachstumswettbewerb zum kriegerischen Verdrängungswettbewerb äußert sich in Überkapazitäten, einer schnelleren internationalen Angleichung von Produkt- und Prozessqualitäten, verkürzten Innovationszyklen, einer hohen Markttransparenz und in einer steigenden Individualisierung der Kundenwünsche. Angesichts dieses Wettbewerbsszenarios wird das logistische Leistungsvermögen von Unternehmen zu einem kritischen Differenzierungsfaktor, der die in der Vergangenheit dominierenden Wett­bewerbs­dimensionen Produktqualität und Preis relativiert. Kunden und Wettbewerber fordern in preis- aber auch in qualitätssensitiven Marktsegmenten kurze Lieferzeiten sowie eine hohe Lieferqualität und Termintreue. Flexibilität und Lieferbereitschaft lassen sich aufgrund der wachsenden Variantenvielfalt und bei schwankendem Nachfrageverhalten nicht durch den Aufbau von Lagerbeständen erreichen, sondern müssen durch eine kundennahe Produktion und Zulieferung mit kurzen Durchlauf- und Wiederbeschaffungszeiten sichergestellt werden.

Flexible Logistikkonzepte

Hierzu werden neue Logistikkonzepte notwendig, die die Flexibilitätsanforderungen erfüllen, ohne dass gleichzeitig ein Ansteigen des Umlaufvermögens sowohl innerhalb der Produktion, als auch im Fertigwarenbestand erfolgt. Ungewissheit über den Zeitpunkt der Kundennachfrage und die konkret verlangten Produktvarianten sowie die Vermutung, dass der Mitwettbewerber in der Lage ist, den Kundenwunsch qualitativ wie quantitativ ebenso zu erfüllen, zwingt zum Überdenken der traditionellen Logistikstrategie. Eine effiziente, die gesamte Wertschöpfungskette umfassende Unternehmenslogistik ist frei von Verschwendung und Blindleistung und trägt ausnahmslos dem Ziel der Kundenorientierung Rechnung. Die Steigerung der Logistikleistung und -flexibilität einerseits und die Reduktion der Logistikkosten andererseits spannen den Zielkorridor eines Wertschöpfungsfaktors Logistik auf. Es wird geschätzt, dass branchenabhängig 14 - 25 % des Umsatzes als Logistikkosten zur Erfüllung der Aufgaben in der logistischen Kette anfallen. Hierzu zählen Kapitalbindungskosten im Anlage- und Umlaufvermögen, Planungs- und Dispositionskosten im Einkauf, Kosten der Planung und Steuerung der Produktion sowie der Warenverteilung zum Kunden, Transportkosten und Kosten für Informationssysteme.

Just-In-Time-Prinzipien

Just-In-Time-Prinzipien versuchen dieses Zielbündel in Richtung auf ein Gesamtkostenoptimum zu beeinflussen. Bei der Implementierung von Just-In-Time-Prinzipien sind folgende Grund­überlegungen zu berücksichtigen. Bestände in der Produktion und im Fertigwarenlager werden als gespeicherte Kapazitäten angesehen. Aufgrund der Beobachtung, dass Nachfrage immer gerade nach nicht vorrätigen Produktvarianten besteht, scheint es angebracht, Kapazitäten für eine kurzfristige nachfragegerechte Produktion vorzuhalten. Ein permanenter Rationalisierungszwang des Produktionsgeschehens ist die Folge der Senkung von Beständen, denn es zeigt sich, dass Bestände Fehler verdecken, wie z.B. unabgestimmte Kapazitäten und störanfällige Prozesse.

Fertigungssegmentierung

Neben Kosten und Produktivität sind Auftragsdurchlaufzeiten zur Effizienzbeurteilung der Fertigung heranzuziehen. Drastische Durchlaufzeitreduzierungen lassen sich mit organisatorischen Strukturveränderungen durch die Schaffung ablaufoptimierter Fertigungssegmente erzielen. Da die Fließfertigung die kostengünstigste Organisationsstruktur der Fertigung darstellt, versucht man z.B. durch die Produktion von Tageslosgrößen und einer Rüstzeitminimierung deren Kostenvorteile auch in der Losfertigung zu realisieren. Um zuverlässige Produktionsplanungs- und steuerungsdaten zu erhalten, ist es zweckmäßig, die angestrebte Durchlaufzeit an der Sicherheit von Bedarfsprognosen auszurichten. In einer Marktaufschwungphase kommt es darauf an, durch schnelle Befriedigung von Nachfrage Marktanteile zu erobern, während in einer Marktabschwungphase das möglichst schnelle Zurückfahren der Produktion einen übermäßigen Bestandsaufbau verhindern soll. Lange Durchlaufzeiten verursachen demzufolge in beiden Fällen einen umsatz- und kostenwirksamen Timelag. Die Schaffung kleiner organisatorischer Einheiten nach dem Grundsatz ‘Man muss klein werden, um zu wachsen‘ und deren direkte Ausrichtung auf Marktsegmente hat bei einer ganzheitlichen Betrachtung der logistischen Kette anzusetzen und die Erkenntnisse sowohl der strategischen Planung als auch der Fertigungsorganisation zu berücksichtigen. Zur praktischen Umsetzung der Fertigungssegmentierung ist es erforderlich, Kriterien zu definieren, anhand derer die Aufteilung der logistischen Kette erfolgen soll.

Aufbau von Wertschöpfungspartnerschaften

Die Verkürzung der Lieferzeit beim Produzenten wird, ohne gegen das Postulat minimaler Bestände zu verstoßen, über eine Reduzierung der Durchlaufzeit erreicht, was in der Folge Auswirkungen auf die Wiederbeschaffungszeit von fremdbezogenen Vormaterialien hat. Geringe Bestände beim Produzenten erfordern ein störungsfreies System, da Prognosefehler nicht durch Rückgriff auf alternativ einzusetzende Teile oder Materialien ausgeglichen werden können oder bei Ablaufstörungen zur Beschäftigungssicherung kein Rückgriff auf Puffer- oder Zwischen­lager­bestände möglich ist. Eine unzureichende Materialversorgung führt somit direkt zu Unterbrechungen im Produktionsprozess. Die partnerschaftliche Beziehung zwischen den unabhängigen Unternehmen gilt als wesentliches Charakteristikum einer erfolgreichen produktionssynchronen Beschaffung. Basis dieser Beziehung sind festvereinbarte Rahmenverträge, die als Sicherheit für die Kapazitätsbereitstellung dienen. Die kurzfristige Materialversorgung wird über ein flexibles Abrufsystem gesteuert. Regelmäßige Vorabinformationen in Form von Absatzprognosen oder zu erwartenden Bestellungen erleichtern dem Zulieferer die kapazitative Bereitstellung oder Reservierung von Betriebsmitteln sowie die Disposition von Vormaterialien. Die Qualitätsprüfung wird in der Regel auf den Zulieferanten verlagert. Hier gilt die gleiche Überlegung wie bei der Fertigungssegmentierung, dass die Fehlerbeseitigung am Ort des Entstehens am kostengünstigsten ist. Nach anfänglichen stichprobenhaften Wareneingangskontrollen wird nach Erreichen eines entsprechenden Standards des Zulieferers auf eine Qualitätsprüfung vollkommen verzichtet. Einen besonderen Stellenwert nimmt die Frage der Verteilung oder das Abschöpfen von Rationalisierungsvorteilen, sei es durch Erfahrungsakkumulation oder durch wertanalystische Verbesserungen am Fertigungsobjekt, ein. Hierüber ist frühzeitig eine vertragliche Regelung zu treffen, so dass der Hinweis oder die Umsetzung von Verbesserungsvorschlägen und damit die Realisation von Rationalisierungspotentialen beschleunigt wird. Der sukzessive Aufbau von Wertschöpfungspartnerschaften mit den strategisch wichtigen Lieferanten schafft die Ausgangs­basis für eine effiziente Gestaltung der produktionssynchronen Beschaffung.

Innovative Produktionsplanungs- und steuerungsprinzipien

Soll die Logistik als Wertschöpfungsfaktor fungieren, ist eine Steigerung der Logistikflexibilität mittels Implementierung innovativer Produktionssteuerungsprinzipien erforderlich. Selbststeuernde Regelkreise erlauben die Entlastung übergeordneter Steuerungsinstanzen und die autonome Bestimmung des Zeitpunkts der Bedarfsermittlung durch die verbrauchende Stelle. Das Prinzip der selbststeuernden Regelkreise beruht auf der Implementierung des Hol-Prinzips. Zwischen zwei unabhängigen Bedarfseinheiten herrscht Hol-Pflicht, wenn die im Ablauf nachgelagerte Einheit ihren individuellen Bedarf der vorgelagerten Einheit meldet. Die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter erstreckt sich auf die Einhaltung der vorgegebenen Qualitätsstandards. Die Gestaltung der selbststeuernden Regelkreise kann über Karten (sog. KANBANs), Behälter, akustische Signale oder elektronische Medien erfolgen. Sie stehen steuerungstechnisch dem häufig noch praktizierten Push-Prinzip entgegen, bei dem die Leistungserfüllung nur durch ein permanentes Ändern der Prioritäten, das heißt Vorziehen oder Verschieben von Aufträgen, sicherzustellen ist. Die Einrichtung selbststeuernder Regelkreise setzt eine längere zeitliche Bedarfskonstanz bei z.B. zukünftig KANBAN-gesteuerten Materialien und/oder Bauteilen voraus. Die Planungs- und Dispositionsaktivitäten in der logistischen Kette werden in der Regel zwischen den Fertigungs- und Montagebereichen des Produzenten von der Produktionsplanungs- und Steuerungsabteilung, zwischen dem Produzenten und dem Lieferunternehmen von der Einkaufsabteilung und zwischen dem Produzenten und dem Abnehmer von der Verkaufsabteilung durchgeführt. Um diese vielfältigen Planungs-, Dispositions- und Kontrollaufgaben wirtschaftlich wahrnehmen zu können, ist eine modulare Erweiterung der bestehenden integrierten Modularprogramme um Prinzipien und Konzepte der JIT-Produktion erforderlich, die eine Gestaltung unternehmensspezifischer Lösungen in Abhängigkeit von Produkt, Technologie und Zulieferersituation gestatten. Ausgangspunkt für eine JIT-Informationsverarbeitung sind die in vielen Unternehmen zur Produktionsplanungs und -steuerung eingeführten MRP-Systeme (Materials Requirement Planning). Dabei wurde häufig die Ablauforganisation der Unternehmen in der Regel entsprechend den Erfordernissen der Systeme angepaßt, über Jahre hinweg die erforderlichen Datenbestände aufgebaut und dafür hohe Aufwendungen getätigt. Für eine JIT-gerechte Informationsverarbeitung, die in einem überschaubaren Zeitraum und mit begrenzten Aufwendungen eingeführt werden soll, sind deshalb auf Grundlage der bestehenden Systeme Erweiterungen vorzunehmen, ohne ungeeignete Strukturen festzuschreiben. MRP-Systeme bilden nicht nur die Basis für eine Einführung von JIT-Prinzipien in der Produktionsplanung und -steuerung, sondern auch für die Integration der betriebswirtschaftlichen und der technischen Datenverarbeitung zu einem CIM-System (Computer Integrated Manufacturing System) mit gemeinsamem Grunddatenbestand.

Einbindung von Spediteuren und Dienstleistern in die Distributionslogistik

Mit einer stetigen Verringerung der Fertigungstiefe und der Erhöhung der Variantenzahl in weiten Teilen der Industrie ergeben sich steigende Transportvolumina, Handlings- und Koordinationsaufgaben. Diese Situation verursacht Kostensteigerungen, Ablaufprobleme und erhöht die Logistikkomplexität. Lösungen für die beschriebene Problematik werden in der Übertragung logistischer Funktionen auf Spediteure und Dienstleistungsunternehmen gesucht. Traditionell sind an dem Austausch von Gütern und Informationen auf Seiten des Herstellers die Produktionsplanung und -steuerung sowie der Versand beteiligt und auf Seiten des Abnehmers die Materialdisposititon sowie die Beschaffung. Das Konzept der Einschaltung von Spediteuren - und hier insbesondere von Gebietsspediteuren - sieht die Übernahme von Aufgaben wie die Überwachung der Einhaltung von Lieferterminen, die Lagerbewirtschaftung und die Informationsübertragung zwischen Lieferanten und Kunden vor. Infolge der Sammlung von Einsatzmaterialien beim Spediteur läßt sich die Zahl der Anlieferungen beim Abnehmer verringern und besser zeitlich staffeln, wodurch eine gleichmäßige Belastung des Wareneingangs möglich wird. Zudem besteht die Möglichkeit, auf dem Rückweg Transporthilfsmittel und Erzeugnisse in Vertriebsläger zu verbringen. Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass sich durch solche Maßnahmen im Transportbereich ein Kostensenkungspotential in Höhe von 10 - 15 % erschließen läßt.

Europäische Logistiknetzwerke

Parallel zu der Verringerung der Leistungstiefe ist ein fortschreitender Trend zur Globalisierung von Unternehmensaktivitäten festzustellen. Kennzeichnend hierfür ist neben einem stark wandelnden europäischen Handel die Internationalisierung der Beschaffungsmärkte und der Aufbau multinationaler Produktionsverbundsysteme. Das Ziel besteht darin, regionale Kosten- und Infrastrukturvorteile zu nutzen und gleichzeitig eine europaweite Versorgung und Wettbewerbspräsenz zu gewährleisten. Die Aufgabe der Logistik in ihrer Funktion als Wertschöpfungsfaktor besteht in der Gestaltung und Koordination eines europaweiten Netzwerkes von Material- und Informationsflüssen.

Fazit: Logistik als Wertschöpfungsfaktor

Die Ausformung der Logistik nach dem Just-In-Time-Konzept sowie die Entwicklung zukunftsorientierter Logistikstrategien im globalen Wettbewerbsumfeld hat sich in europäischen Unternehmen als ein wirksames Instrument zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit erwiesen. Reduzierungen der Durchlaufzeit von 60 - 90 %, der Bestände bis 50 %, der Lager- und Transportkosten bis zu 20 %, eine Steigerung der Qualität und der quantitativen Flexibilität sowie der Produktivität von mehr als 25 % gegenüber der Ausgangssituation waren die Regel. Die Ergebnisse sprechen für sich und weisen die Logistik als bedeutenden Wertschöpfungsfaktor im Rahmen der strategischen Unternehmensführung aus.

Weiterführende Literatur zum Thema

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